Predigt von Pfarrer Daigeler zum Karfreitag
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Liebe Schwestern und Brüder im Herrn, „seht, der Mensch“, so stellt Pilatus Jesus der Menge vor. Ein knapper Satz, der in der ausführlichen Lesung der Johannes-Passion vielleicht gar nicht bemerkt wird. In seiner lateinischen Form Ecce homo ist er in der christlichen Kunstgeschichte die Bezeichnung für die Darstellung des verurteilten Jesus, der im Purpurmantel, die Dornenkrone tragend, still duldend dasteht.
Man kann diesen Satz unterschiedlich auffassen. „Seht, der Mensch“ kann eine Herabsetzung sein – im Sinne von „der da“, irgendein Mensch, der nicht einmal einen Namen hat. Die Diktaturen der Geschichte und Gegenwart machen Menschen zu Zahlen. Mit Nummern gekennzeichnet werden Widerständige oder abgewertete Personen verhaftet und „entsorgt“. „Das sind doch keine Menschen (mehr)…“, hieß und heißt es in den Konzentrationslagern. Diktatoren hetzten junge Menschen in den Krieg, wie wir es in diesen Tagen in Russland sehen. Sie werden „verheizt“. Wer fragt nach ihrer Menschen-Würde? In seinem Kreuzweg, in der Verspottung und schließlich in seinem Sterben hat Jesus sich mit all denen verbunden, die ihrer Würde beraubt werden, die einsam in Gefängnissen oder Schützengräben – oder in jeder Situation der Verzweiflung – sterben.
„Seht, der Mensch“ kann aber auch anders verstanden werden. Menschen, das sind wir ja alle. Das ist das, was uns allen gemein ist. Unsere Zeit stellt gerne Unterschiede und Diversitäten heraus. Ja, jeder ist anders, ein eigener Mensch, und doch sind wir alle Menschen. Dieses Gemeinsame darf nicht aus dem Blick geraten, denn es ist das, was uns zusammenhält in einer Gesellschaft. Jesus ist einer von uns geworden. Ein „Nachkomme Adams und Evas“ sozusagen. Diese biblische Erzählung, die im Wort des Evangelisten anklingt, wird heute von vielen belächelt. Die Lehre von der Evolution habe das widerlegt. Dabei wird die tiefe Wahrheit dieser Worte übersehen. Sie sagen ja vor allem, dass wir alle in gleicher Weise Mensch sind unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Herkunft oder anderen Merkmalen. Und wir sind dadurch „verwandt, sind Teil der einen Menschheitsfamilie. Und Jesus hat sich zum Teil dieser Familie gemacht, damit wir seine Brüder und Schwestern werden und so die ersehnte Einheit und Frieden finden.
Schließlich ein dritter Gedanke zu diesem Wort: „Seht, der Mensch“. Es erinnert an das Geheimnis der Menschwerdung Gottes in Jesus. „Das Wort ist Fleisch geworden“. Gott hat sich, um verstehbar zu werden, angreifbar gemacht. Wir sehen die innere Verbindung von Krippe und Kreuz, von Menschwerdung und Erlösung. Jesus ist Mensch geworden, doch nicht „irgendein“ Mensch. Er ist der „neue Adam“, in dem sich das Geheimnis des Menschen klärt. „Denn er, der Sohn Gottes, hat sich in seiner Menschwerdung gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt.“ (Gaudium et spes, Art. 22) Wir sehen in ihm den leidenden Gottesknecht, der uns das Beispiel der Liebe und Demut gibt, die nicht zurückschreit oder zurückschlägt. Wir sehen in diesem Menschen aber auch den Weg, dem wir folgen müssen, damit wir das Leben finden, damit unsere Leiden und unser Tod überwunden werden. „Seht, der Mensch“. Amen.
15.04.2022, Pfarrer Dr. Eugen Daigeler