Predigt von Pfarrer Daigeler zum Karfreitag
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Liebe Schwestern und Brüder im Herrn, unsere deutsche Sprache birgt in dem Wort „Ansehen“ zwei Bedeutungen. Wir sehen uns Dinge an, um sie zu erkennen, zu verstehen oder zu genießen. Gleichzeitig entsteht Ansehen aus dem Angesehenwerden. Dass mich eben jemand mit Wohlwollen, Respekt oder gar mit Liebe ansieht, tut gut und ist zum guten Leben notwendig. Der Leidensweg Jesu, von dem wir am Karfreitag hören, zeigt uns unterschiedliches Sehen, verschiedene Blicke, über die ich kurz nachdenken möchte.
Bei seiner Verhaftung sehen die Soldaten einen Mann, der im Garten betet. Sie erkennen ihn nicht, obwohl sie ihn sehen. Einige Evangelisten erzählen uns davon, dass Judas Jesus geküsst habe, damit die Soldaten erkennen, wen sie verhaften sollen. Johannes erzählt uns, dass Jesus selbst sich vorstellt. Das Sehen der Soldaten ist also oberflächlich. Was interessiert sie der Mensch, um den es hier geht… Er hat kein Ansehen, er ist in ihren Augen unbedeutend. Und mit ihrer Gleichgültigkeit werden sie zu Mittätern.
In der Ersten Lesung, in der der Prophet Jesaja über den Gottesknecht sprach, hieß es: „Er sah nicht aus, dass wir Gefallen fanden an ihm.“ Jesus sah mit Sicherheit erbärmlich aus nach seiner Geißelung oder im Spottmantel. Viele wenden den Blick ab: „Das kann ich nicht ansehen“. Menschlich ist das verständlich, aber was geschieht, wenn alle wegschauen, wo ein Mensch leidet, wo ein Unschuldiger verurteilt wird? So werden auch die scheinbar unbeteiligten Zuschauer durch das Wegschauen zu Mittätern. Oder noch schlimmer zu Gaffern, die nicht helfen, sondern nur neugierig zuschauen.
Das Erstaunliche des Evangeliums ist aber, dass der Verurteilte einen Blick für die anderen hat. Jesus sieht im Leiden noch die anderen. Er sieht die Frauen am Weg, er sieht seine Mutter und den Jünger unter dem Kreuz. Und sein Blick tröstet, schenkt Ansehen. Er schenkt sogar Vergebung, wie wir am Beispiel des Petrus sehen.
Der Blick Jesu ermutigt aber auch, die Nöte des anderen zu sehen. „Frau, siehe dein Sohn“, sagt er. Jesus lehrt selbst im Leiden – oder vielleicht gerade dort – den Blick der Liebe. „Gott lieben und den Nächsten lieben“, so hatte er die Gebote zusammengefasst. Dass dies nicht bloße Worte oder Phrasen sein dürfen, sehen wir deutlich auf dem Kreuzweg des Herrn.
Der Karfreitag ist auch ein Aufruf zur Gewissenserforschung: Was sehe ich an? Worauf richte ich meinen Blick und meine Aufmerksamkeit? Und wie sehe ich den anderen und die Welt um mich an? Mit dem Blick der Liebe oder mit Gleichgültigkeit? Gaffe ich oder schenke ich Ansehen?
Der Evangelist Johannes schließt die Darstellung der Kreuzigung mit dem Schriftwort: „Sie werden auf den blicken, den sie durchbohrt haben.“ Heute am Karfreitag sind wir aufgefordert, dankbar, staunend, aber auch mit Reue auf den zu schauen, der durchbohrt am Kreuz hängt. Doch immer sind wir zu diesem Blick aufgefordert, darum hängt ja das Kruzifix in unseren Kirchen und Häusern, darum steht es an Wegen und Plätzen. Weichen wir ihm nicht aus, bleiben wir nicht gleichgültig. Sehen wir ihn an und lassen wir uns von ihm ansehen. Sein Blick schenkt uns Ansehen, richtet uns auf, lässt uns leben. Und lernen wir von ihm, anderen anzusehen, dass auch sie aufgerichtet werden. Amen.
07.04.2023, Pfarrer Dr. Eugen Daigeler